Der Mensch braucht

Was braucht der Mensch zum Leben, was braucht er zum Überleben?
In den sozialen und medizinischen Berufen beschäftigt man sich jeden Tag genau mit dieser Frage. Aber wer denkt bei dieser philosophisch anmutenden Frage schon an pflege- und betreuungsbedürftige, und die pflegenden wie betreuenden Menschen, welche diese Frage jeden Tag neu, in der Tat und ganz konkret beantworten? Denn die Antwort gehört dort zur Basis der täglichen Arbeit. Selbstverständlich gibt es zur Pflege von Menschen auch einschlägigen Literatur, nach der die Pfleger und Pflegerinnen ausgebildet werden. Meine Ausführungen lehnen sich jene Literatur an.

Der Kern, um den sich hier alles dreht, ist kein geringerer als der

Überlebenstrieb

Ein Mensch hat, wie alle anderen Lebewesen auch, zunächst das Bedürfnis zu leben, zu überleben. Alle folgend beschriebenen Tätigkeiten und Verhaltensweisen sind darauf ausgerichtet, die Lebens- und Überlebensfähigkeit nicht einzuschränken, sie zu erhalten oder gar zu fördern.

  1. Essen, trinken und atmen

    Durch Nahrung führen wir unserem Körper Energie und Nährstoffe zu, damit sich dieser, durch den Gesamtprozess des Stoffwechsels, erhalten kann. Wenn wir nicht oder nicht ausreichend essen und trinken, können wir nicht denken, keine zielgerichteten Tätigkeiten ausführen. Wir verhungern, verdursten, unser Imunsystem bricht zusammen, wir werden krank und sterben. In der richtigen Menge und in der richtigen Art und Weise zu essen, zu trinken ist so wichtig wie das Atmen. Es ist überlebenswichtig. An dieser Feststellung, gehe ich mal davon aus, gibt es keinen Zweifel. Und nicht zu vergessen: die Ausfuhr ist so wichtig wie die Einfuhr, beim Essen, beim Trinken, beim Atmen.

  2. Ruhen, schlafen und wohnen

    Das wir Ruhe und Schlaf zum überleben brauchen, so stelle ich in den Raum, wird ebenfalls nicht bezweifelt. Die Folgen von Schlafmangel oder gar Schlafentzug können leicht recherchiert werden. Sie reichen von psychischen Störungen und Verwirrtheitszuständen bis hin zu körperlichen Auswirkungen wie Herz- und Kreislaufbeschwerden, Stoffwechselstörungen, und Halluzinationen. Um ausruhen, schlafen und entspannen zu können, brauchen wir Orte, an denen wir uns sicher und geborgen fühlen. Solche Orte, solche Rückzugsmöglichkeiten, sollten unsere Wohnungen und Häuser sein. Sie schützen uns (normalerweise) ebenfalls vor äußeren Einflüssen, dort können wir uns organisieren und finden Ruhe.
    Eine Behausung bot früher besseren Schutz vor wilden Tieren, denen wir Menschen auch zeitweise als Nahrung gedient haben. Höhlen sind nicht immer bewohnbar, sie können feucht und zugig sein und es gibt sie nicht überall. Häuser sind da wesentlich Vorteilhafter und haben sich daher durchgesetzt. Nomaden nehmen ihre Behausungen mit. Früher waren es Zelte, heute sind es Wohnmobile und Wohnwagen.

    Wer draußen in der Wildnis übernachtet, muss sich vor Gefahren schützen. In einer Gemeinschaft können einige Wache halten, während andere schlafen und ihre Aufmerksamkeit senken. In einer geschlossenen Wohnung können wir uns ganz fallen lassen. Daher brauchen wir auch innerhalb einer Gemeinschaft, manchmal sogar innerhalb intimer Beziehungen, Rückzugsräume zur Regeneration.

  3. Sich waschen und pflegen

    Diese beiden ‘Aktivitäten des täglichen Lebens’, wie es Liliane Juchli bezeichnet, dienen ebenfalls dem Erhalt der Lebensfähigkeit. Ohne ein gewisses Maß an Hygiene werden wir von Krankheiten befallen. Zudem macht sie uns, wie die Kleidung, attraktiver. Kleidung schützt – zunächst unabhängig vom Aussehen – vor Kälte, Hitze, Schmutz und geringen mechanischen Einflüssen. Verletzungen schränken unsere Lebensfähigkeit ein, bergen die Gefahr von Infektionen, etc.

  4. Sich kleiden und schützen

    Deshalb kleiden wir uns (und nicht deshalb, weil wir uns voreinander schämen, unsere Körper nicht voreinander zeigen möchten. Das sind eher religiöse Interpretationen, die zur gesellschaftlichen Norm wurden. Die Tupi-Indianer waren die ersten Einheimischen der "neuen Welt", auf die Columbus traf. Sie waren nackt. Auf den überlieferten Gemälden wurde ihnen ein weißer Lendenschurz verpasst, weil der Vatikan die "sündige" aber reale Abbildung nicht erlaubte. Die Wirklichkeit war, nach deren Meinung, der europäischen Gesellschaft nicht zuzumuten.)

    Selbstverständlich kam irgendwann auch der modische, der schmückende Aspekt hinzu. Vermutlich als die technischen Möglichkeiten entdeckt wurden, die Optik der Kleidung zu beeinflussen, gewann das Erscheinungsbild neben dem Nutzen und der Funktion an Bedeutung.

  5. Kommunizieren und sich beschäftigen

    Mit Kommunikation können wir einander vor Gefahren warnen, sogar von einer Generation zur nächsten, von einer Gruppe zur anderen. Um den Lebenserhalt und den Schutz vor Gefahren permanent zu verbessern, sind wir neugierig, möchten wissen. Deshalb möchten wir auch wissen woher wir kommen, wer wir sind, wo im Universum wir stehen und welche Rolle wir spielen. Deshalb möchten wir Zusammenhänge verstehen – grundsätzlich. Spätestens wenn es Störungen in unserem gewohnten Alltag gibt, möchten wir mehr wissen, um diese Störungen beseitigen bzw. künftig vermeiden zu können.

    Auch, um die Lebensfähigkeit, den Erhalt unserer Gesundheit zu erleichtern und zu verbessern, leben wir mit anderen zusammen, kommunizieren, bilden Gemeinschaften und Gesellschaften, teilen Arbeit auf. Der Mensch hat gelernt, dass der Lebenserhalt, die Lebensfähigkeit, in der Gemeinschaft leichter und besser erreicht und gefördert werden kann als alleine. Durch Arbeitsteilung und Spezialisierung lassen sich Hilfen und Hilfsmittel erarbeiten, welche unsere Lebensfähigkeit weiter verbessert. Das war der ursprüngliche Grund der Arbeitsteilung. Es wurde und wird auch in vielen familiären Gemeinschaften, in Sippen und Stämmen, noch heute so praktiziert, dass innerhalb der Gruppe Leistungen ohne Gegenleistungen erbracht werden, zum Wohle der Gemeinschaft.

    Auch Zerstreuung und Unterhaltung steigert oder erhält unsere Lebensfähigkeit. Wir entspannen, lernen, schärfen unsere Sinne, erweitern unsere Fähigkeiten (Spiele, Wellness, …) So war es zumindest ursprünglich gedacht – und nicht um auf einem Arbeitsmarkt bestehen zu können, irgendwelchen Unternehmen als Lohnsklaven UND Konsumschafe zu dienen.

    Sich zu beschäftigen bedeutet aber nicht nur in Bezug auf "Freizeit" mental rege zu bleiben. Sich zu beschäftigen heißt auch, Aufgaben zu bewältigen. Ob das nun der Zusammenbau von Schiffsmodellen, Fahrzeugen oder anderen Dingen ist, das Programieren von Anwendungen, das koordinieren von Gütertransporten, das Entwerfen und Herstellen von Kleidung, Objekten, Werkzeugen, das Schaffen von Kunst, oder was auch immer: es sind Aufgaben, Herausforderungen. Und sicher findet sich immer jemand, dem die Bewältigung einer bestimmten Aufgabe Freude bereitet, Spaß macht, der darin aufgeht. In diesem Moment verschwimmt die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeitgestaltung. Die Bewältigung einer gestellten Aufgabe gibt einem das Gefühl gebraucht zu werden, nützlich zu sein. Das wiederum löst im Körper Prozesse aus, die tatsächlich die Gesundheit verbessern, sogar lebensverlängernd wirken. Ein Hinweis darauf, dass diese Behauptung eine Tatsache ist, ist der zu beobachtende Umstand, dass "familienführende" Menschen häufig sehr alt werden. Weniger offensichtlich ist das auch bei Menschen zu beobachten, die sich mit Hingabe einer Aufgabe widmen.

    Eines der schädlichsten Dinge, die man sich antun kann, ist auf Dauer untätig zu sein. Und das bekommen wir auch von unserem Körper mitgeteilt. Dennoch ist es das Bild, das immer noch vielen Menschen vorschwebt, wenn sie von Reichtum träumen: den ganzen Tag am Meeresstrand in der heißen Sonne liegen und sich kühle Cocktails servieren lassen. Konkret nachgefragt ist es aber doch vornehmlich der Gedanke schuldenfrei zu sein und die Sicherheit zu haben, auf Dauer versorgt zusein. Daher möchten viele Menschen viel Geld haben. Das Streben nach monetärem Reichtum ist also eher eine Angst vor Versorgngsmängeln und keine Gier, bei welcher ein Individuum mehr Besitz an einer Sache anstrebt als es benötigt oder für das Erreichen eines Ziels sinnvoll ist. 

  6. Liebe und Anerkennung

    Für die (Über-)Lebensfähigkeit ist es vorteilhaft, wenn der Mensch einer Gruppe angehört. Früher, in der Steinzeit, wurden Sippenmitglieder, gegen welche sich eine Ablehnung entwickelte, vielleicht, weil sie gegen die Sippenregeln verstoßen hatten, von der Sippe, vom Stamm, oder sonst einer Gruppe ausgeschlossen. Musste ein Mensch dabei die Gruppe, das Dorf, die Gemeinschaft verlassen, bedeutete das meist den sicheren Tod, wenn er nicht eine andere Gruppe fand, die ihn aufnahm. Daher sind wir auch heute noch bestrebt, innerhalb einer Gruppe zumindest anerkannt zu sein, nicht ausgestoßen, nicht ausgeschlossen zu werden. Auch wenn die konkrete Lebensbedrohung weggefallen ist, so fühlen wir uns in einer Gemeinschaft, in einem sozialen Umfeld doch immer noch sicherer und stärker als allein. Dazu muss dieses Umfeld uns aber nicht permanent auf der Pelle sitzen, sondern es genügen eine regelmäßige Kommunikation, gelegentliche Treffen und gemeinsame Unternehmungen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen. Diese Anerkennung ist uns so wichtig, dass Menschen zeitweise dafür sogar ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Viele Menschen beginnen zum Beispiel das Rauchen, um in einer Gruppe anerkannt zu werden, um dabei zu sein. Daher möchte man “cool” wirken.

    Im weiteren Ringen um Anerkennung (zur Vermeidung des Ausgeschlossen werdens) kann es dann zur Spaltung kommen. Bis hier hin kann das Verhalten in die Worte fassen: „Ich bin also genau so stark und überlebensfähig wie ihr auch. Ich werde Euch nicht zur Last fallen und wo ich kann helfen. Daher kann ich Mitglied Eurer Gruppe sein, kann vielleicht etwas beitragen“. Steigert sich dieses, kommt es langsam zur  Entwicklung von vermeintlichem Alphagehabe. Hier muss der potenzielle Anführer eine besondere, besonders starke oder große Überlebensfähigkeit beweisen. Letztlich bedeutet z. B. das Trinken von Alkohol, das Rauchen und andere Dinge: „Schau her, ich nehme schädigende Substanzen zu mir und ich halte das aus. Ich bin stärker als das Gift. Ich tue etwas verbotenes und werde nicht erwischt, ich bin schlauer als die Aufpasser. Ich bin also sehr stark und schlau. Ich bin besonders überlebensfähig.“ Fehlt nur noch ein "Ich bin Superman". 

    Übers Ziel hinaus: „Deshalb bin ich auch stärker und besser als Du. Tue, was ich sage und du wirst überleben / genauso wie ich." Oder um das noch weiter zu steigern und Druck zu erzeugen: "Und ich verlange von Dir, dass Du mir ab jetzt gehorchst und meine Anweisungen widerspruchslos annimmst. Sonst werde ich die nicht anerkennen“ bzw. „sonst werde ich Deine Lebensfähigkeit beeinträchtigen“ (Androhung von Repressionen bis hin zu körperlicher Gewalt).
    Sicher ist das nur ein Aspekt der Bildung von Alpha-Personen, Wort- und Gruppenführern. Seit Urzeiten lebt der Mensch in Gruppen, Sippen, Stämmen und später in Dörfern, “Produktionsgemeinschaften”, Städten, um zusammen zu überleben, gemeinsam Lebensräume zu erschießen. Deshalb finden manchmal Menschen in Kommunen zusammen und versuchen, sich vor den Gefahren des Kapitalismus zu schützen oder gar sich diesen zu entziehen.